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Die Verwaisten

Bertolt Brecht schreibt in seinerKarsamstagslegende, den Verwaisten gewidmet“: „Als sie gehetzt und müde / Andern Abends wieder zum Grabe kamen / Siehe, da blühte / Aus dem Hügel jenes Dornes Samen. / Und in den Blüten, abendgrau verhüllt / Sang wunderleise / Eine Drossel süß und mild / Eine helle Weise. / Da fühlten sie kaum / Mehr den Tod am Ort / Sahen über Zeit und Raum / Lächelten im hellen Traum / Gingen träumend fort.“

Ein schönes, hoffnungsvolles Ostergedicht. Den Verwaisten, den Hinterbliebenen gewidmet.

Ich erinnere mich an den Tag, als mein Vater beerdigt wird. Nach Beerdigungscafé und anschließendem Friedhofsbesuch kehren wir schweigend und müde zurück zu meinem Elternhaus. Als wir ankommen, werden wir im Hof von einer uns unbekannten jungen Frau erwartet. Wir sind überrascht, denn ihr Kommen ist nicht angekündigt. Im Arm hält sie die braune, alte Kastenwanduhr mit dem goldenen Zifferblatt aus dem Wohnzimmer, die bis vor einem Jahr mit sonorem Gong zuverlässig die Stunde geschlagen hat, bis sie plötzlich immer wieder aussetzt. Mein Vater, zu dieser Zeit bereits sehr krank, aber noch mobil, bringt die Uhr mehrfach zur Reparatur zum Uhrmacher in die nächste Kleinstadt. Kaum ist sie zurück und wieder an ihrem Platz, arbeitet das Uhrwerk nur kurz und steht dann wieder still.

Es ist kurz vor Weihnachten 1999; ich besuche meine Eltern. Als ich zuhause ankomme, ist der elterliche Hof tief eingeschneit. Die Erkrankung meines Vaters schreitet unaufhaltsam fort. Und er ist wütend, da die Uhr erneut ihren Dienst versagt hat. Er besteht darauf, sie umgehend zur Reparatur zu bringen. Es schneit immer noch; ich bin müde und etwas genervt, will ihm den Gefallen aber schließlich tun. Ich schaufele den Hof frei, schwitze und friere zugleich. Mein Vater kriecht angestrengt auf den Autobeifahrersitz. Die Kastenuhr packe ich ihm vorsichtig vor seinen erschöpften Körper auf den Schoss. Er schlingt beide Arme fest um sie, so, als wolle er sich an ihr festhalten. Wie in Zeitlupe fahren er, ich und die alte Kastenuhr auf der glatten Straße zum Uhrmacher in die kleine Stadt. Mein Vater flucht und wettert. Bereits die dritte erfolglose Reparatur.

Für ihn beginnt in diesem Dezember ein langer Karfreitag, der mit seinem Tod zwei Monate später endet. Die Uhr haben wir während dieser Zeit vergessen. Nun ist sie plötzlich wieder da, wird den Verwaisten übergeben, die an jenem kalten Nachmittag in der abendlichen Wintersonne stehen und sie erstaunt und irgendwie verzaubert entgegennehmen. Wir hängen sie an ihren Platz. Sie schlägt wieder.

Margit Umbach

Foto: Kelly Sikkema on unsplash