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Einen gemeinsamen Moment bitte!

Ich glaube, das schönste Kompliment, was ich als Psychologin und angehende Psychotherapeutin bislang erhalten habe, war der Satz: „Danke, dass Sie während unserer Gespräche immer so präsent waren.“ Präsent sein, also ganz da sein, bei sich selbst und bei dem Anderen. Das ist es also, wofür ich lange studiert habe und nun diese zeit- und kostenintensive Ausbildung mache. Mein schönstes Kompliment lautet nicht: „Danke für Ihre klugen Worte, Ihre aufschlussreichen Deutungen und zielführenden Fragen.“ „Präsent sein“ – das klingt so trivial. So gar nicht nach Hochschulstudium, Fleiß und Expertise.

Meine Grundschullehrerin hat mir einmal folgende kleine Geschichte in mein Poesie-Album geschrieben:

Ein Schüler fragte einmal seinen Meister, warum dieser immer so ruhig und gelassen sein könne.

Der Meister antwortete: “Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich.“

Der Schüler fiel dem Meister in Wort und sagte:
“Aber das tue ich auch! Was machst Du darüber hinaus?”

Der Meister blieb ganz ruhig und wiederholte wie zuvor:
“Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich…”

Wieder sagte der Schüler: “Aber das tue ich doch auch!”

“Nein”, sagte da der Meister. “Wenn Du sitzt,
dann stehst Du schon.
Wenn Du stehst, dann gehst Du schon.
Wenn Du gehst, dann bist Du schon am Ziel.”

Wenn Du stehst, dann gehst Du schon. Wenn du gehst, dann bist Du schon am Ziel… Schnell, effizient und vorausschauend: Wer so unterwegs ist, kommt in unserer Arbeitswelt vermeintlich schneller ans Ziel. Es sind Eigenschaften, die jedes Arbeitszeugnis zum Glänzen bringen. Und dann kommt dieser Herr K. daher und sagt: „Danke, dass Sie während unserer Gespräche immer so präsent waren.“ Je mehr ich aber über dieses Kompliment nachdenke, desto mehr merke ich, dass eine ganze Menge hinter diesem „Präsent-Sein“ steckt.

Vor den Gesprächen mit Herrn K. lerne ich nicht noch schnell Karteikarten auswendig, befrage meine Lehrbücher, wie man diesen Menschen gesund macht oder überlege mir kluge Interventionen. Im Gegenteil. Für die nächsten 50 Minuten, die diese Therapiestunde dauert, entrümpele ich mich von meinem Theoriewissen, meinen Vorannahmen, Erwartungen und Plänen. Dabei wird mir meist etwas mulmig zumute: So ganz ohne Masterplan in die nächste Situation zu gehen, was ich sonst so gar nicht von mir kenne. Und da ist noch etwas, was unter dem Berg an fachlichem Vorwissen zum Vorschein kommt: Interesse, Offenheit und Vertrauen. Flankiert von diesen drei Weggefährten öffne ich die Tür zu meinem Gesprächszimmer. Herr K. tritt ein. Da ist jetzt eine Menge Platz für uns beide und für alles, was er mitgebracht hat. Wir beide sind ganz da.

Estella

Photo: Charles de Luvio on unsplash