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Sternenstaub und Taucherglocke

Ein heisser Samstag morgen im Juni 2022: In der Auferstehungskirche in Aachen-Forst sind wir gemeinsam mit anderen Eltern dabei, die letzten Vorbereitungen für die bevorstehende Abiturfeier unserer Kinder zu treffen. Mein letzter prüfender Blick richtet sich auf die Tische auf dem Vorplatz der Kirche, auf denen wir kleine Vasen mit Sommerblumen drapiert haben, sowie auf eine lange Tafel, die sich nach und nach mit Fingerfood füllt. Der Sekt ist kaltgestellt. In wenigen Minuten wird sich die ganze Stufe in der schlichten, hellen evangelischen Kirche ein letztes Mal gemeinsam versammeln und Platz vor dem weissen, hohen Mauersturz nehmen, der am oberen Ende rechts und links durch zwei schlichte, lichtdurchflutete Fenster flankiert und unten durch ein kleines Stehkreuz auf Goldfuß zentriert wird. Mit viel Konzentration kann man auf der weissen Fläche (je nach Lichteinfall) die Silhouette eines Kreuzes entdecken.

Die Feier beginnt. Alle Blicke sind auf die jungen Frauen und Männer gerichtet, die heute hier ihre Schulzeit beenden. Und meine Gedanken schweifen kurz zurück zu meiner eigenen Abifeier, die fast auf den Tag genau 39 Jahre früher in einer Synagoge in Wittlich stattfand. Ich erinnere mich an den Rabbiner, der uns beim Eintritt mit Handdruck begrüßte, sowie an ein befremdliches und bis dahin nicht gekanntes Gefühl des Unwohlseins, resultierend aus dem Gedanken, aufgrund der Shoah eigentlich keine Berechtigung für eine Feier an diesem Ort zu haben. Ich erinnere mich an Christian, den unangepassten Stufensprecher mit Popper-Haarschnitt, wie er nach vorne ging, um sein Zeugnis entgegen zu nehmen. Er trug einen schwarzen Schwalbenschwanzfrack und ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Ich bin ganz heiss auf Nudel up“. Während einer tiefen Verbeugung vor der Direktorin hob er elegant den hinteren Teil seines Fracks und erntete nicht nur dafür tosenden Applaus. Ich erinnere mich an einen heissen Sommertag wie heute und auch daran, wie ich nach den Feierlichkeiten ein bisschen beschwipst in meinen bunt bemalten Käfer stieg und meinen Eltern nachwinkte, die nach Hause fuhren. Die Heuernte war in vollem Gange.  

Und nun, an einem ähnlich heissen Junitag 2022, sitzen wir hier selbst als Eltern  und lauschen den bewegenden, lustigen und tiefgehenden Worten, die die Schüler*innen und Lehrer*innen zum Besten geben. Die Musik dazu darf nicht fehlen; und so leiten die jeweiligen Songs aus der Mottowoche  die Zeugnisvergabe in den zusammensitzenden „Freundegruppen“ ein: I want it that way, Ein Affe und ein Pferd, Herz an Herz, in meinem Benz, Schüttel deinen Speck, Nie mehr, Major Tom, Sing Hallelujah, Zeit steht, Haus am See, Saufen morgens, Planet Kumpel, Lila Wolken, 700 Main street, Ich schwanke noch, Augenbling, Alles nur geklaut…Friday, Der Tanz, Jägermeister, Adilette,  Brother Louie, Babawagen, We like to party, Mit den Jungz, Ich fühl mich Disco, Almost there, Abi Abi, Atzenmodus, Bleib in der Schule, I need your love, Hier ist Party, Bungalow, Dancing Queen, I’m so excited, I want to break free, Palmen aus Plastik, Alles neu, Paradise, Zukunft….

Ein Platz, an dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie bei einem indischen Holifestival in einer großen, schrill-bunten Farbwolke der Freude vermischen, unterlegt von einem wilden Songmix, der das Lebensgefühl der jungen Menschen als Momentaufnahme wiederspiegelt. Die ersten Abifeierlichkeiten nach Corona, bei denen wieder Umarmungen, Händeschütteln und unbeschwertes Feiern erlaubt sind.

Es folgt eine Verschnaufpause am Nachmittag zuhause, bevor wir uns alle wieder zum Abendprogramm in der Mensa Vita zusammenfinden, um weiter zu feiern, zu essen, zu reden und zu tanzen. Im Saal läuft eine Bilderstrecke mit  „Weisst Du noch Momentaufnahmen“ der Abiturient:innen, die aus ihren Kinderwagen mit schokoladenverschmierten Mündern gut gelaunt in die Kamera lächeln,  stolz ihre Pony- und Fußball-Schultüten ins Bild halten und gemeinsam auf Stufen- und Klassenfahrten posieren. Auf den Tischen für jeden eine kleine Lichttüte mit Zetteln, auf die man gute Wünsche schreiben kann. Eine Polaroidkamerastation mit Verkleidungskiste lädt zum Schnappschuss mit Familie und Freunden ein. Wir stülpen uns Hüte und Perücken über unsere verschwitzten Köpfe, quetschen unsere glücklichen Gesichter in den Kameraausschnitt und fügen eine weitere „Weisst Du noch Momentaufnahme“ hinzu, bevor die eigentliche Party beginnt und es für die Eltern und Geschwister Zeit ist, zu gehen.

Ein Ablauf, der im wesentlichen vielen anderen Abiturfeiern ähnelt.  Rückblick, Ausgelassenheit, Freude, Leichtigkeit, Wehmut, Aufbruch.

 Zwei Monate später erfährt unser Sohn, dass J.‘s Schwester, die ein Jahr zuvor in diese „Farbwolke der Freude und des Aufbruchs“ eintauchte, während ihres Freiwilligendienstes in Westafrika plötzlich an einer Krankheit verstorben ist. Alles wird schwarz. Die Farben ins Schweigen gehüllt. Die Lieder verblasst. Die Welt zerschnitten in ein Vorher und Nachher. Eine Familie, die das Überleben und das Weiteratmen lernen muss.

„Lässt für die Sterblichen größeres Leid sich erdenken, als sterben zu sehen die Kinder? “ (Euripides)

Ich denke an Frau N., die ich vor einigen Jahren in einem Seniorenheim kennenlernte. Aufgrund eines ärztlichen Behandlungsfehlers musste sie mit einem nicht temporären Luftröhrenschnitt leben. Jeder Atemzug, der durch eine blaue Kanüle in ihren Hals floss, teilte sich laut mit.  Die Betreuungskräfte benannten sie nach einer Figur aus dem Film Star Wars, die schwer atmet, einen schwarzen Panzer und einen Helm mit Visier trägt. Darth Vader. Frau N. war schroff, sehr ernst und selbstbestimmt, ihre Mimik maskenhaft, fast regungslos. Eine gewisse Nähe zu ihr blieb nur einigen wenigen Menschen vorbehalten. Frau N’s abweisende Art verunsicherte mich; aber irgendwann begann das Eis etwas zu tauen, was ich daran ablesen konnte, dass sie mir in ihrem karg eingerichteten Zimmer einen Stuhl anbot, auf dem ich vorsichtig Platz nahm. An der Wand  entdeckte ich hinter einem kleinen Rahmen ein paar vergilbte Familienfotos. Darauf zu sehen: der im Ausland lebende Sohn, die vor ein paar Jahren an Krebs verstorbene Tochter und das Bild eines Jungen. Stockend erwähnte sie, dass dieser Junge, ihr jüngster Sohn, im Alter von 17 Jahren Ende der 60er Jahre bei einem Tauchunfall in einem Eifelmaar ums Leben gekommen war. In mir zog sich etwas zusammen, denn die Erzählung vom Tod ihres Sohnes verband sich nun plötzlich mit jener Geschichte, die ich als kleines Mädchen gehört und seither nicht vergessen hatte. Die mit meinen Eltern befreundete Familie, bei der ich oft zu Gast war, unterhielten sich damals über einen jungen Mann, der nach einem Tauchgang im Pulvermaar vermisst wurde. Ich hörte den Erwachsenen aufmerksam zu. Nach einigen Tagen wurde er auf dem Seegrund gefunden. Er hatte sich in einer Pflanze verheddert und war schließlich erstickt, als sein Sauerstoffvorrat erschöpft war. Ich verstand damals zum ersten Mal, dass Eltern ihre Kinder nur begrenzt beschützen können. Viele Jahrzehnte später traf auf ich auf Frau N., die Mutter des Tauchers. Sie atmete tief, schwer und konzentriert. Wie unter einer Taucherglocke.  An der Wand ein verblichenes Foto von einem jungen Mann in Badehose an einem See.

„Freut Euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“ (Römerbrief 12,15).

Margit Umbach

Foto: Greg Rakozy on unsplash