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Hand aufs Herz

Laut Wohnungslosenbericht der Bundesregierung waren Ende 2022 263.000 Menschen wohnungslos. Diese Zahl umfasst wohnungslose Menschen, die untergebracht sind, verdeckt wohnungslose Menschen, die wechselweise bei Bekannten schlafen, sowie wohnungslose Menschen, die auf der Straße leben. Zur letzten Gruppe gehörten 37.400 Personen.

Viele von ihnen sitzen auf Parkbänken, vor Kirchen, vor Supermärkten, in Fußgängerzonen, sind überwiegend männlich und alleinstehend. Bezeichnet werden sie als Penner, Bettler, Vagabunden, Nichtsesshafte oder Obdachlose. Oft ist ein Hund ihr Begleiter. Manche betteln um Geld, manche sind auf Drogen, Alkohol, andere verwirrt, krank, aber alle unter der Armutsgrenze. Einige halten sich mit Straßenmusik, Straßenzeichnungen oder mit dem Verkauf von Obdachlosenmagazinen über Wasser. Das Leben hat sich in ihre Körper eintätowiert. Die Gründe für Obdachlosigkeit sind vielfältig: Arbeitslosigkeit und Armut, Trennung oder Scheidung, Altwerden, Zuwanderung, Gesundheitsprobleme und der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Der Journalist und Autor Michael Holzach ist diesem „Lebensgefühl“ 1980 als Obdachloser auf Zeit mit seinem Hund Feldmann nachgegangen und schrieb das vielbeachtete Buch „Deutschland umsonst“. Mehr als 40 Jahre sind seitdem vergangen; die Bundesrepublik ist eine andere; das Thema blieb.

Für die meisten wohnungslosen Menschen sind die Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände und Kirchen überlebensnotwendige Anlaufstellen. Hier gibt es Soforthilfe , Sozialberatung, Essen, Getränke, Wärme und Möglichkeiten zur Körperpflege, Wäschereinigung und vor allem Kontakt mit Menschen in geschützten Räumen, in denen man sich austauschen und Freizeitaktivitäten ausüben kann. Tafeln, Suppenküchen, Kleiderkammern – häufig ohne engagiertes Ehrenamt nicht denkbar -erweitern das Spektrum.

Wohnungslose Menschen gehören auch zu meiner „Straßenerfahrung“, die ich manchmal wegblende, manchmal mit einem Kaffeekauf, einer Geldspende und ein paar Worten im Vorbeigehen schnell „bewältige“, um meiner „Christenpflicht“ nachzukommen.  Selten aber, dass es sich ergibt, dass eine Begegnung tiefer ins Herz rutscht, da das gut gemeinte Nebenher die Möglichkeit des wirklichen Einlassens ausschließt, weil ich gerade in einem anderen Film bin: „Bitte, keinen Nerv dafür, ich hab’s eilig, oder der Gedanke: ich kann nicht bei jedem anhalten. Anders geschehen vor einigen Wochen. Es regnet Hunde und Katzen. Ich bin auf der Jakobstr. Richtung Innenstadt unterwegs, werfe 3 Euro für 1 Stunde in die Parkuhr und bin erstaunt über den Preis.  Während der Automat die Münzen verschluckt, überlege ich, was man an Überlebensnotwendigem für 3 Euro bekommt: z. B. ein belegtes Käsebrot für 2,95 Euro in der Bäckerei gegenüber.  Ich eile weiter. 100 m weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite fällt mein Blick eher zufällig in einen Hauseingang auf eine Karre, behangen mit gefüllten Plastiktüten. Der Griff ist mit einem  schmuddeligen Stoff umwickelt, der wie ein Verband wirkt, unter dem es nicht heilen will.

Dahinter, von der Straße aus kaum sichtbar, sitzt ein Mann in einem vor Regen geschützten Hauseingang. Seine Beine stecken in fleckigen Binden, die sich lösen. Dazwischen werden offene Hautstellen sichtbar. Auf meine Ansprache hin öffnet er langsam seine schweren Augenlider. „Lust auf ein Brötchen und einen Kaffee?“ frage ich. „Ja gerne, den Kaffee bitte mit 3 Würfel Zucker.“, lautet die Antwort. „Was soll aufs Brötchen?“ „Mett wäre super“ „Und wenn kein Mett da?“ Er zögert und weiss nicht so recht, wie mit der plötzlichen Auswahlmöglichkeit umgehen. Ich schlage Käse vor. „Ja, Käse geht auch“.  Ich verschwinde zur Bäckerei gegenüber, bestelle gesüßten Kaffee und ergattere die zwei letzten Mettbrötchen.  Zurückgekehrt, sehe ich, dass der Mann wieder eingenickt zu sein scheint. Der Duft des Kaffees und meine Stimme holen ihn zurück. Er greift nach dem Kaffee, nimmt einen langsamen Schluck  und tut einen tiefen, entspannten Seufzer. Schiebt ein leises Aaaah, guut hinterher, sowie ein „Ooh, Danke, sogar zwei Mettbrötchen, von denen er direkt eines herzhaft anbeisst. Wir erzählen ein bißchen. Wohin er zum Übernachten geht und wie der Kontakt zu  seiner Familie ist. Ich merke, dass das Sprechen anstrengend für ihn ist. Er will stattdessen lieber Berührung, streckt mir seine schwieligen Fingerknöchel  entgegen und fragt, ob das o. k. für mich sei. Es ist o.k.. Seine Hand ist sehr schmutzig; da hätte ich Probleme, aber die Knöchel gehen problemlos. Ich bin berührt. Er versetzt sich in mein Denken und Fühlen und will so eine Möglichkeit schaffen, seinen Wunsch nach Berührung nicht unerfüllt zu lassen, weil ich ablehnen könnte oder ihm die Hand mit Ekel reiche. Er will, dass diese Berührung zustande kommt und authentisch ist. Dann gebe ich ihm noch ein wenig Geld. Er hält seine Hand aufs Herz und ich sehe, dass ein paar Tränen an seinen Wangen runter rinnen. Ich halte intuitiv auch meine Hand aufs Herz. Er wechselt die Hand auf die andere Seite seines Brustkorbs und ich tue das Gleiche.  Dann werden auch meine Augen feucht. Wir haben uns gespiegelt.

Margit Umbach

Another day in paradise

She calls out to the man on the street:
»Sir, can you help me?
It’s cold and l’ve got nowhere to sleep.
ls there something you can tell me?«
He walks on, doesn’t look back;
He pretends, he can hear her
starts to whistle as he crosses the street
seems embarrassed to be there
Oh, think twice,
it ’s just another day for you and me in paradise
just think about it
She calls out to the man on the street
he can see she’s been crying
she‘ s got blisters on her soles and her feet
she can’t walk but she’s trying
Oh, think twice,
it’s just another day for you and me in paradise
just think about it
Oh, Lord, is there anything
for anybody who can do?
Oh Lord, must be something
you can say…
You can tell by the lines on her face
You can see that she’s been there
probably been moved on from every place
‚cause she wouldn’t fit in there
Oh, think twice,
it’s just another day for you and me in paradise
just think about it

Song: Phil Collins, songtext “Another day in paradise“

Foto: Carlos Torres on unsplash

Lesetipp zum Thema:

Michael Holzach „Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland „(1980)

Filmtipp zum Thema:

Bob der Streuner, beruhend auf einer wahren Geschichte (Kinofilm von 2017)