Heimat – ein schillernder, vieldiskutierter Begriff in modernen Gesellschaften, die einem raschen Wandel und der damit verbundenen Suche nach Verortung und Identität unterliegen. Heimat kann ein Ort, eine Erinnerung, ein Geschmack, ein Geruch, eine Melodie, ein Gefühl sein, aber auch eine Verbindung mit Menschen, die ähnliche Werte teilen. Heimat ist statisch und im Prozess der Aneignung von Heimat, der „Beheimatung“, zugleich dynamisch.
Wie lebe und erlebe ich sie persönlich? Ich erinnere mich an den Duft der großen, gefüllten Garten-Duftrosen, die an meinem Namenstag in eine Vase auf die festlich gedeckte Kaffeetafel gestellt wurden, wo sie ihre Farbenpracht entfalteten und einen atemberaubenden Duft verströmten. Mit dieser Erinnerung verbunden ist bis heute das Gefühl, geliebter Teil einer Sippe zu sein, zu der meine Familie und die Familienfreunde gehörten, die jedes Jahr mit mir, dem Kind, am 13. Juli meinen Namenstag feierten. Ich kann ihn abrufen, den Duft dieser alten Rosen, deren Namen ich nicht kenne, wie auch die Farben des Maialtärchens, das meine Mutter jedes Jahr am ersten Mai mit mir aufbaute. Dazu gehörte eine Madonna, die mein Bruder aus einem groben Holzblock geschnitzt hatte sowie selbstgepflückte Wiesenblumen, die ich mit Hingabe in Einweckgläser und Vasen um die Figur herumdrapierte. Das Altärchen war mein Altärchen – und ich konnte, musste aber nicht davor beten. Ich erinnere mich auch an den Klang der Kirchturmglocke als Hintergrundgeräusch zu Telefongesprächen mit meinen Eltern während eines Jahrzehnte zurückliegenden längeren Auslandsjahres in den USA. Heimat als Glockenklang, der sich über einen Ozean und einen Kontinent hinweg ausdehnte. Ich bewahre sie mir, diese schönen Heimatgefühle, die ich mit meiner Herkunft und meinem Glauben verbinde und versuche sie weiterzutragen.
Dann gab es Heimatgefühle, die ich fernab von zuhause entwickelte. Ich verbinde sie mit Martha, einer Wiener Jüdin. Wir lernten uns in den späten 80er Jahren in Kalifornien in einem Alzheimer’s day center (einer Tagesstätte für alzheimerkranke Menschen) kennen, wo Martha und ich als „Volunteers – Freiwillige“ arbeiteten. Martha und ihr Mann Kurt, den Todesfabriken der Deutschen knapp entkommen, emigrierten als Heimatvertriebene in die USA, strandeten in New York, wo sie einige Jahre verbrachten, um von dort aus weiter an die Westküste zu ziehen. Nach dem Tod ihres Mannes verkaufte Martha das gemeinsame Haus und zog in ein Seniorenheim, in dem sie nicht heimisch wurde. Obwohl bereits 80-jährig und nur bedingt gesund, verliess sie die Einrichtung, um sich mit einer längeren Kanadarundreise per Zug einen lange gehegten Traum zu erfüllen. Nach ihrer Rückkehr sollten 9 weitere Lebensjahre auf sie warten, die sie in einem Mobile Home Park für Senior:innen verbrachte, bevor sie an ihrem 90. Geburtstag nach einem Schlaganfall in einer Klinik verstarb – auf ihrem Geburtstagskuchen, wie ich von einer Freundin später erfuhr, ein Spielzeugvogel, der ihr zum Übergang ins neue Leben ein Ständchen: „Happy birthday“ pfiff.
In jenen Jahren lernten wir uns also in besagter Einrichtung kennen, die an einer breiten Straße mit dem schönen Namen „Bird Avenue“ lag, saßen vor und in ihrem vollgestopften Blechdosenheim unter der kalifornischen Sonne, aßen ihre selbstgebackenen Schokoladencookies und feierten zusammen Weihnachten. Sie spielte Orgel, als mein Mann und ich heirateten, wir wurden Freunde und teilten ein Stück Gegenwart in einer amerikanischen Landschaft, in der Heimat weniger ein bleibender, denn ein Sehnsuchtsort war – dem auch wir erlegen waren. Ich erinnere mich an meinen Beheimatungsprozess in dieser zunächst fremden Umgebung, wo die Menschen immer „on the move“ zu sein schienen und an die Kreativität, die entstand, wenn Fremde auf Fremde in der Fremde trafen, so dass ein Stück temporäre Heimat entstand, die wir miteinander teilten.
Eine unvermeidbare Heimatlosigkeit verspürte ich mit dem Tod des letzten Elternteils. Ich war hier niemandes Kind mehr. Heimat erleb(t)e ich immer als stabilen Fixpunkt innerhalb der Familie, die mein Anker- und wärmender Feuerplatz bis heute geblieben ist.
Es ist Sommer 2023. Wir sitzen im Café Heimat im Hunsrückdorf Morbach, dem Heimatort des Filmregisseurs Edgar Reitz und trinken starken ecuadorianischen Kaffee. Um uns herum zahlreiche schwarz-weiss Portraits der Protagonisten aus seinem Film-Epos „Heimat“. Ein Film, der auch zu meiner Eifler und bundesrepublikanischen DNA dazugehört und sie in Teilen abbildet. Die Sessel sind mit rauhem Sackleinen bezogen, bedruckt mit den bunten Logos südamerikanischer Kaffeehersteller. Heimat als fiktive Erzählung. Heimat in der Ferne. Heimat als Ort der Vergangenheit, Ort der Gegenwart und Ort der Sehnsucht – Orte, die in unmittelbarer Gleichzeitigkeit existieren können. Und irgendwann dann vielleicht ewige Heimat. Bis dahin: „on the move“… 😉
Oder aber Heimat als ideologischer, von rechtsextremen Gruppierungen besudelter und instrumentalisierter Begriff, um Menschen nicht deutscher Herkunft auszuschließen und zu verunglimpfen. Wir sollten uns unsere gemeinsame Heimat nicht von den Rechten nehmen lassen.
„Wie also „Heimat“ leben? Eigentlich ist es einfach: Indem man sich geschenkter Heimaterfahrungen erfreut, unvermeidliche Heimatlosigkeit erträgt und an Beheimatung, also der kreativen Gestaltung von Unterschieden, arbeitet: an der eigenen Beheimatung wie an jener der anderen. Und dabei nie vergisst: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“
(Rainer Bucher, Professor für katholische Pastoraltheologie, Universität Graz)
Margit Umbach