„Diese Weihnachtszeit findet uns als ein ziemlich ratloses Menschengeschlecht. Wir haben weder Frieden in uns noch Frieden um uns. Überall quälen lähmende Ängste die Menschen bei Tag und verfolgen sie bei Nacht. Unsere Welt ist krank an Krieg.
Wohin wir uns immer wenden, sehen wir seine verhängnisvollen Möglichkeiten. Und doch, meine Freunde, kann die Weihnachtshoffnung auf Frieden und guten Willen unter allen Menschen nicht länger als eine Art frommer Traum von einigen Schwärmern abgetan werden. Wenn wir in dieser Welt nicht guten Willens gegen die Menschen sind, werden wir uns durch den Missbrauch unserer eigenen Werkzeuge und unserer eigenen Macht selbst vernichten. Klugheit aus Erfahrung sollte uns sagen, dass der Krieg etwas Überholtes ist. Es mag Zeiten gegeben haben, da der Krieg als ein negatives Gutes diente, indem er die Ausbreitung und das Wachstum einer bösen Macht verhinderte, aber die äußerst zerstörende Gewalt moderner Waffen schließt an sich schon die Möglichkeit aus, dass der Krieg heute noch als negatives Gutes dienen könnte. Wenn wir also voraussetzen, dass das Leben lebenswert ist, wenn wir voraussetzen, dass die Menschheit ein Recht darauf hat zu überleben, dann müssen wir eine Alternative zum Krieg finden – so lasst uns denn an diesem Morgen die Bedingungen für den Frieden erforschen. Lasst uns an diesem Morgen aufs neue über die Bedeutung jener Weihnachtshoffnung nachdenken: „Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind.“ Und wenn wir diese Bedingungen erforschen, möchte ich vorschlagen, dass die modernen Menschen wirklich alle hingehen und die Bedeutung der Gewaltlosigkeit, ihrer Philosophie und ihrer Strategie studieren….“
„Unsere Welt ist krank an Krieg“ – Worte von erschreckender Aktualität, verfasst vor 56 Jahren. Es sind die Eingangsworte zur Weihnachtspredigt von Martin Luther King, gehalten in der Ebenezer Baptist Church in Atlanta. In seiner Predigt geht es um den Traum von einer besseren Welt. „Friede auf Erden“ ist kein Manifest, kein Strategiepapier, kein Abkommen, sondern „nur“ eine Erzählung von der Hoffnung auf das Licht am Ende eines dunklen Tunnels.
..„Ich träume davon, dass eines Tages die Menschen sich erheben und einsehen werden, dass sie geschaffen sind, um als Brüder miteinander zu leben. Ich träume auch an diesem Morgen noch davon, dass eines Tages jeder Schwarze in diesem Lande, jeder Farbige in der Welt auf Grund seines Charakters anstatt seiner Hautfarbe beurteilt werden und dass jeder Mensch die Würde und den Wert der menschlichen Persönlichkeit achten wird. Ich träume auch heute noch davon, dass eines Tages das Recht offenbart werden wird wie Wasser, und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom. Ich träume auch heute noch davon, dass in all unseren Parlamentsgebäuden und Rathäusern Männer gewählt und dort einziehen werden, die Gerechtigkeit und Gnade üben und demütig sind vor ihrem Gott. Ich träume auch heute noch davon, dass eines Tages der Krieg ein Ende nehmen wird, dass die Männer ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen, dass kein Volk wider das andere ein Schwert aufheben und nicht mehr kriegen lernen wird. Ich träume auch heute noch davon, dass eines Tages das Lamm und der Löwe sich miteinander niederlegen werden und ein jeglicher unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen wird ohne Scheu. Ich träume auch heute noch davon, dass eines Tages alle Täler erhöht und alle Berge und Hügel erniedrigt werden, und was ungleich ist, eben, und was höckerig ist, schlicht, und dass die Herrlichkeit des Herrn offenbart werden und alles Fleisch miteinander es sehen wird. Ich träume noch immer davon, dass wir mit diesem Glauben imstande sein werden, den Rat der Hoffnungslosigkeit zu vertagen und neues Licht in die Dunkelkammern des Pessimismus zu bringen. Mit diesem Glauben wird es uns gelingen, den Tag schneller herbeizuführen, an dem Frieden auf Erden ist. Es wird ein ruhmvoller Tag sein, die Morgensterne werden miteinander, singen und alle Kinder Gottes vor Freude jauchzen.“
Quelle:
Auszug aus „Friede auf Erden“ – eine Weihnachtspredigt von Martin Luther King. Veröffentlicht in Martin Luther King. Schöpferischer Widerstand. Hrsg. Von Heinrich W. Grosse, Gütersloher Verlagshaus Mohn (1985)
Ohne Träume keine Zukunft. Wir brauchen mehr Träume in der Welt von 2023, in der so vieles zerbricht und so viele nach Hoffnung und Heilung suchen. „Unsere Welt ist krank an Krieg“ schreibt M. L. King. Wovon also sollen wir träumen?
Ich erlebe mich in dieser Zeit als nicht besonders weihnachtlich gestimmt. Ich schlafe weniger, denke viel nach, träume seltener, fühle mich dünnhäutiger und reizbarer. Der nicht enden wollende Krieg in der Ukraine, die Massaker vom 7. Oktober und der Krieg im Gaza-Streifen beschäftigen mich täglich. Die ferne Welt ist nah. Auf unserem Küchentisch die handbemalte Granatapfelvase eines armenischen Keramikers aus Jerusalem. Ich sehe sein Geschäft an der lehmfarbenen Mauer mit dem purpurroten Bougainvilleastrauch aus der Gattung der Wunderblumengewächse, durch das er uns 2022 bei unserem Israelbesuch führte. Ich denke an unsere Freunde in Tel Aviv, deren Himmel jetzt iron dome heisst. Hinterbliebene knieend vor Gräbern in kargen Trauerwüsten. Ich stelle sie mir vor, die eingekesselten Menschen im Gazastreifen, wie sie sich im Bombenhagel zwischen Gewehrsalven von einem Atemzug zum nächsten, von einem Tag zum anderen kämpfen. Ich sehe die tagsüber fast immer geschlossenen Jalousien an der Wohnung einer jungen ukrainischen Familie. Der Anblick der verdunkelten Wohnung erinnert ans Überleben im Schutzraum. Ich höre auf den Straßen Menschen, die nach Gerechtigkeit schreien. Ich sehe Bilder von Tod und Zerstörung in den Nachrichten und versuche zu verstehen, was nicht zu verstehen ist. Es sind Fragmente, Brüche, die aus der Nähe und Ferne in meinen Alltag, in mein Fühlen hinein und nachwirken.
Zufällig traf ich zu Beginn der Weihnachtswoche eine Vergolderin. Sie erzählte mir von ihrem Handwerk, bei dem man Holz, Metall, Kunststoff und Glas vergoldet und manchmal auch restauriert. Während unseres Gesprächs fiel mir dabei die Technik des Kintsugis, der Goldreparatur ein. Sie gehört zu einer japanischen Tradition, bei der man zerbrochenes, wertvolles Geschirr nicht wegwirft, sondern durch einen Künstler wieder neu zusammensetzen lässt, indem man dem Kleber Goldstaub zufügt, so dass die Risse und Brüche am reparierten, geheilten Gefäss deutlich sichtbar werden und ihm eine narbenhafte Schönheit verleihen.
Ich träume davon, eine Kintsugi-Künstlerin zu werden. Ich träume davon, dass wir im Jahr 2024 viele Kintsugi-Künstler sein werden. Hier und dort. Im Kleinen und im Großen.
Shalom Salam Friede auf Erden 2023
Margit Umbach
Foto: riho kitagawa-ju on unsplash