Der erste queere Mann, den ich kannte, begegnete mir in meiner Kindheit – lange, bevor es den Sammelbegriff “queer” gab. Er war verheiratet, hatte Kinder, mit denen ich spielte, arbeitete in einer Fabrik, rauchte Kette und half mit seinen handwerklichen Fertigkeiten gerne aus, wenn es etwas im Dorf zu tun gab. K. liebte Männer, da aber in den 60er und 70 er und 80 er Jahren nicht sein durfte, was ist, lebte er zwei Leben: ein konventionelles Leben und eines, das er in die Abstellkammer seines Herzens hinter Schloss und Riegel gebracht hatte. Vermutlich klopfte es von da immer wieder an und schrie: „Ich will hier raus“ . Dann reichte K. ihm gelegentlich eine Schnapsflasche durch den Spalt und brachte es zum Schweigen. Von K. gab es eine offizielle Version seiner selbst, eine verdeckte und eine von den Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern paraphrasierte. Die Worte schwul oder homosexuell – zu unerhört, unbekannt, unanständig. Mich beschäftigte das als Kind nicht weiter, obschon ich die Ambivalenz und den damit verbundenen Schmerz doch irgendwie spürte, wenn ich auf K. traf, jenen sanften, schlaksigen Vater meiner Spielkameraden und Ehemann einer, so wie es mir schien, oft überforderten Ehefrau. Viel später half er mir, eine Holzvertäfelung anzubringen; ich erinnere mich an das entspannte Arbeiten, an die offene Packung Reval auf der Fensterbank und den Paragraphen 175 aus einer Zeit, in der gleichgeschlechtliche Liebe noch unter gesetzlicher Strafe stand. Den zweiten schwulen Mann traf ich 1988. Rob arbeitete an der Berlitz School in San Jose, wo er meinem Alltagsenglisch auf die Sprünge half. Er hatte einige Jahre zuvor in Berlin mit seinem Partner Isaac gelebt, bevor er in seine Heimatstadt San Francisco zurückkehrte. Ein schillernder 40jähriger Mann mit weißblondierten Haaren, blitzenden blauen Augen, astreinem Deutsch, selbstbewußter Ausstrahlung und Kontakt zur prominenten Folk-Musikszene der Westküstenstadt. Seither sind viele Jahrzehnte vergangen. Zu Rob habe ich keinen Kontakt mehr, K. ist längst tot. Zwei Leben, die nicht unterschiedlicher hätten sein können. Wenn ich an K. denke, scheint es mir, dass heute im Vergleich zu damals kaum jemand mehr unter falschen Voraussetzungen leben muss, weil er/sie schwul, lesbisch, trans- oder intersexuell ist. Und dennoch – die Ambivalenz ist trotz größerer Akzeptanz, mehr Sichtbarkeit von queeren Lebensweisen in der Gesellschaft und der Einführung der rechtlichen Gleichstellung queerer Menschen geblieben. Eine Studie der Universität Witten/Herdecke, die die psychische Gesundheit von LGBTQ-Personen untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass die Lebenszufriedenheit queerer Menschen ähnlich der Gesamtbevölkerung ist, dass diese jedoch trotz vieler Verbesserungen immer noch stark unter „Diskriminierung, Angst vor Ablehnung und strukturellen Hürden“ leiden. Zunehmender Rechtspopulismus und die Beschneidung der Rechte von transMenschen in den USA zeigen eine politische Entwicklung auf, die auch hier dazu führen kann, dass das am 1.11 2024 in Kraft getretene Selbstbestimmungsgesetz für queere Menschen wieder abgeschafft wird.
Am 6. Und 7. Juni fand in Aachen unter Beteiligung zahlreicher Kooperationspartner der Christopher Street Day mit über 9.000 Besucherinnen und Besuchern sowie einer eindrucksvollen Demonstration mit über 2000 Teilnehmer*innen statt. Die verrückte Kirchenbank – Kirche an die frische Luft war an den Stand von QuiBA (Qeer im Bistum Aachen) und der KFD (Katholische Frauen Deutschland) eingeladen, um gemeinsam mit den Organisatorinnen Miriam Daxberger und Yasmin Raimundo als Kirche ansprechbar zu sein sowie die politischen Forderungen queerer Menschen an das Bistum entgegen zu nehmen.
Der diesjährige CSD fand am Pfingstwochenende statt, begleitet von einem stürmischen Wind, der die alte Kirchenbank zwischenzeitlich umriss. An Pfingsten wurden die Jünger durch den heiligen Geist sehr „stürmisch“ befähigt, in verschiedenen Sprachen zu sprechen, sodass Menschen unterschiedlicher Herkunft diese verstehen konnten, d.h jegliche Verständigungsbarrieren waren gefallen. Es ist an der Zeit, dass die Kirchen Seelsorger*innen für queere Menschen aussenden, die von diesem guten, heiligen Geist erfasst sind – Menschen, die die Sprache queerer Menschen sprechen und diese im Kampf um ihre Rechte und gesellschaftliche Akzeptanz unterstützen. „Make Empathy Great Again“ -Einfühlungsvermögen als eine lernbare Universalsprache, die jede und jeder verstehen kann, der bereit ist, sich von seinen Vorurteilen zu trennen. Lasst diese Sprache wieder wachsen! MEGA!
Margit Umbach
Foto: privat