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Seelenvögel

Ein kühler, trockener Novembertag. Ich packe die kleine Kirchenbank samt Ausstattung ins Auto und mache mich auf zum Friedwald Merode. Während mein Navi eine umständliche Wegführung übernimmt, von der ich mir nicht sicher bin, ob sie wirklich zielführend ist, fällt mir eine witzige Geschichte meines früheren Chefs ein, der mit seinen Kollegen nach einer Irrfahrt zu einer Beerdigung auf dem Friedhof ankommt und der Navi mit dunkler Stimme sagt: Sie haben ihr Ziel erreicht. Damit ist im doppelten Sinne alles gesagt; und so kann mich dann hoffentlich auch auf meinem Navi verlassen, der mich nach einer Odysee über unbekannte Dörfer und Straßen zumindest für heute schon mal an das Ziel meiner Reise bringen soll: zu einem Parkplatz, auf den ich mich mit der Bank vor den Eingang des Friedwaldes stellen darf, um mit BesucherInnen ins Gespräch zu kommen.  Als ich ankomme, sehe ich einige Pkws; die Szenerie ist jedoch zunächst menschenleer. Die Novembersonne legt einen mattgelben Schleier über den herbstlich bunten, weiten Laubwald.  Außer einem vereinzelten Krähenruf ist es so still, dass ich einen Moment lang die Blätter fallen höre und kurz das einsame Gefühl verspüre, ganz alleine mit diesem Wald auf der Erde zu sein. Etwas unschlüssig packe ich meine Sachen aus mit der Frage im Kopf: Kommt hier überhaupt jemand vorbei? Als die kleine blaue Bank im Herbstlaub steht, wird es plötzlich belebter. Mein Angebot, mit mir auf der Kirchenbank einen Kaffee zu trinken, wird von den zurückkehrenden FriedwaldbesucherInnen gut angenommen. Schnell holen zwei Freundinnen eine Wolldecke und einen Christstollen aus ihrem Auto, damit der Kaffee noch besser schmeckt und es auf der Bank gemütlicher wird. Sie bleiben lange. Eine der beiden Frauen erzählt, dass es manchmal schwierig sei, den Baum zu finden, an dem ihr Mann bestattet ist. Als ein buntes Blatt in ihren Schoss fällt, sagt ihre Freundin: Schau, heute hast Du den Baum nicht gefunden, aber der E. dich.“ Da kommt Heiterkeit auf. Zwischendrin und danach immer mal wieder andere BesucherInnen auf ein kurzes oder längeres Wort im Stehen oder im Sitzen, mit oder ohne Fragebogen von Max Frisch zum Thema Tod und Sterben. Es geht um Abschiede, über die heilsame Kraft der Bäume und der Natur, über schwierige Zeiten und Zeitgenossen, über Wiedergeburt, übers Kräfte sammeln, über das, was wirklich im Leben zählt und um die Frage, was von uns nach unserem Tod bleibt.  Ein Physiker, Atheist, fragt mich, wie meiner Meinung nach die Seele aussieht und ob ich denke, dass es für seinen Hund auch einen Platz in meinem Auferstehungsglauben gibt.

„Niemand hat die Seele gesehen, aber jeder weiss, dass es sie gibt (…) Und jeder weiss auch, was in ihr ist. In der Seele, in ihrer Mitte, steht ein Vogel auf einem Bein. Der Seelenvogel. Und er fühlt alles, was wir fühlen“ heisst es in dem Buch „Der Seelenvogel“ der israelischen Dichterin Michal Snunit.

Seelenpflege und Gedenken finden hier in Form meditativer Spaziergänge durch eine sich im Jahresrhythmus verändernde Natur statt, in der Werden und Vergehen sowie Gefühle von Trauer und Abschiedsschmerz sprichwörtlich durchwandert werden, sodass die Trauerenden zur Ruhe kommen können. Über die sich im Jahreszeitenwechsel verändernde Natur wird auch die Verbindung mit dem Verstorbenen gestärkt und weniger entfernt als bei einem Friedhofsbesuch erlebt, wie ich erfahre. Vermisst wird hier und da die Möglichkeit, eine Kerze anzuzünden, wobei allen klar ist, dass dies aufgrund der Brandgefahr nicht möglich ist. Mit dem sinkenden Stellenwert von Religion in unserer Gesellschaft verändert sich die Bestattungskultur und damit auch eine der Kernaufgaben der christlichen Kirchen. Diese wird delokaler, vielfältiger und ist viel weniger gebunden an klassische religiöse Rituale. In diesem bunten Spektrum gilt es, neue Formen der Ansprache und Begleitung zu (er)finden, die sich – da wo es passt – mit den veränderten Bedürfnissen der Menschen an den jeweiligen Orten so verbinden, dass für die Frage nach dem christlichen Auferstehungsglauben Raum entstehen kann. Trost; Dialog; Kaffee und Kuchen – wenn gewünscht, mit eingeschlossen! 🙂

Margit Umbach

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke

Aus: Das Buch der Bilder