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Such und Find – eine Wimmelgeschichte

„Wir erzählen uns Geschichten um zu leben“

(Joan Didion)

Kürzlich haben wir unseren Kater von seinem Sommerurlaub abgeholt. Er war verreist. 6 Wochen lang zu unserer Tochter nach Köln. Sein entspannter Gang und ein kleiner, erfreuter Nasenstüber, der – wie ich mir einbilde – wohl sagen will: Na, da seid Ihr ja wieder. Der Stadturlaub war super! Und jetzt nach Hause! Schließlich noch sein letzter Blick aus dem großen Fenster, wo er ein letztes Mal auf seiner Tonne sitzt, aus seinen schönen grünen Augen über die Dächer Kölns blinzelt, die Menschen vor den Bäckerläden und  Kneipen beobachtet und den Bauarbeitern zusieht, wie sie die Straße aufreissen. Ich frage mich, was er in neuer Umgebung beim bloßen Schauen wohl alles entdeckt hat.

Auch wir kommen in diesem Sommer nach unseren Reisen inspiriert und ein bisschen bunter angestrichen in unserer Alltag zurück, am Ende vielleicht mit einer Quintessenz, einem Rückblick oder einer Zusammenfassung. „Gott in allem suchen und finden“ wie Ignatius von Loyola sagt.

Ich habe mich, im Rückblick betrachtet, ohne bewusste Suchbewegung nach Gott auf die Reise begeben, ohne große Lebens- oder Glaubensfragen, Erkenntniswünsche und Pilgergedanken im Gepäck. Nachhause zurückgekehrt, mit zeitlicher Distanz, frage ich mich, was ich unterwegs –  ohne zu suchen – gefunden habe oder wer auch mich vielleicht gefunden hat. Dazu klappe ich mein inneres Album auf, verbinde die quer- und übereinanderliegenden Bilder und Erfahrungen miteinander und mache ein Wimmelbuch für die Israelreise daraus:

Ein Wimmelbuch ist „ein gewolltes Chaos in Bildern“ (Lisa Hoff).  Es erzählt Alltagsgeschichten in Bildern, auf denen immer wieder etwas Neues zu entdecken ist. Fast jedes große und kleine Kind kennt sie, wie auch den kürzlich verstorbenen Vater und Erfinder der Wimmelbücher, Ali Migutsch. Er sagte dazu: „Jedes einzelne Wimmelbild ist ein Teil von mir. Meine Wimmelbücher sind dazu  gemacht, um die Kinder in die Gärten der Phantasie zu führen, wo sie selbst weitermachen“. Stimmt. Ich erinnere mich an viele schöne phantasievolle Momente, wo wir früher mit unseren Kindern auf Entdeckungsreise mit Migutsch‘s Wimmelbuch „Rundherum in meiner Stadt“ und später mit Rotraud Berners Jahreszeiten-Wimmelbücher gingen. Die Bilder erzählen Geschichten, in denen es um das äussere Leben geht und um das, was es im Innersten zusammenhält. Und während wir die Bilder betrachten, beginnen wir selbst eine neue Geschichte zu erzählen…

Hier ein paar ausgewählte Figuren und Szenen von meinem Wimmelbild Israel: Meine Familie und ich kommen zu dritt von der Seite her ins Bild. Es ist schon dunkel und wir steigen mit unserem Gepäck in einer fremden Stadt in einem fremden, heissen Land aus einem Wagen. Ich habe noch meinen blauen Hut auf dem Kopf. Während wir den versteckten Eingang zu unserer airbnb Wohnung nicht finden können und auch unsere Vermieterin nicht erreichen, treffen wir Ellen. Ellen hilft uns suchen, bis wir endlich fündig geworden sind, und bietet uns auch weitere Unterstützung an, falls wir sie brauchen.

 Das Israel Wimmelbuch zeigt sie im blauen Leinenkleid, mit Badelatschen an den Füssen und mit einem Schlüsselbund in der Hand.

Auf dem Bild, seitlich, etwas weiter unten, die Uni von Tel Aviv und die Grabeskirche. Dazwischen steht Sharon, ein befreundeter israelischer Professor aus Tel Aviv, mit dem wir durch Jerusalem und später gemeinsam mit seiner Partnerin Dana in Tel Aviv unterwegs sind. Sharon trägt auf dem Bild ein weisses, kurzärmeliges Poloshirt, hat ein freundliches, gewitztes Lächeln und wache Augen. Er ist nicht praktizierender Jude und weiss einfach alles über die Kultur, Geschichte und Religion(en) seines Heimatlandes. Sharon zeigt uns sein Institut und einen Assistent Roboter in seinem Labor, der Menschen durch Einrichtungen navigiert und ihnen dadurch langes Fragen und Umwege erspart. Danach fahren wir mit ihm nach Jerusalem.  Das Wimmelbild zeigt die Grabeskirche. Sie ist voll von ergriffenen, ehrfürchtigen und interessierten Menschen, die mit allen Sinnen auf der Suche nach Gott  sind,  bedeutsame Gegenstände ehrfürchtig ertasten, anschauen und sogar mit dem Mund berühren. Sharon führt uns zum Ort der Kreuzigung, wo man seinen Arm in einen Hohlraum steckt, um den Boden zu ertasten, auf dem vermutlich das Kreuz stand. Wir machen es den anderen nach, mein Arm greift jedoch ins Leere. Hier fühle ich jedenfalls nichts. Wie sich herausstellt, ist meine Hand nicht auf dem Platz, wo das Kreuz vermutlich stand, angekommen. Keine Frage: dieser Ort mit seiner Geschichte und all den ergriffenen Menschen und seinen Räumen ist mehr als beeindruckend. Ich verbleibe jedoch darin in der Rolle einer touristischen Beobachterin.

 Etwas weiter links im Bild stehen wir mit Sharon alleine unter der Erde, vor uns eine uralte Zisterne. Es ist still und angenehm kühl, das  Wasser ist ursuppig düster,  geheimnisvoll und umgeben von schroffen Felsenwänden. Im schweigsamen Schauen fühlt es sich an, als wären wir in ein Kapitel der Genesis gebeamt worden. Etwas weiter daneben auf dem Bild, der Aussichtsturm der evangelischen Kirche. Auf ihm bekommen wir einen Panoramablick von oben auf die atemberaubende Stadt Jerusalem, wo es unten von Geschichte(n) und Religionen nur so wimmelt – soweit das Auge reicht. Schön ist, dass wir fast alleine hier oben sind und – mit allen Fakten und Bildern versorgt – ungestört unser Kopfkino anwerfen können.

Sharon ist unser Navi und Geschichtenerzähler, deshalb trägt er auf dem Wimmelbild einen Kompass und ein Buch in der Hand.

Ein bißchen weiter rechts auf dem Bild sitzt Hund Ari, ein japanischer Akita Inu, mit plüschigem Fell und schwarzen Knopfaugen, der uns mit seiner Besitzerin im Tel Aviver Stadtteil Florentin begegnet, sanft auf mich zusteuert, meine Hand ableckt und seine Vorderbeine vorsichtig auf meine Schultern legt. Seine Besitzerin sagt:  He’s an angel. Auf dem Wimmelbild trägt er ein Hundehalsband mit dem Namen „Angel“. Ein Hund, der ein Engel ist oder ein Engel als Hund.

Mitten im Bild die Tempelmauer an der Frauenseite, in die ich gerne ein paar Gebetszettel stecken möchte. Nun bin ich doch kurz auf Urlaubs-Funk mit Gott für ein paar liebe Menschen. Es fehlen aber Papier und Stift. Ich schaue mich um. In meiner Nähe steht eine ältere Frau mit sonnengegerbten Zügen und kleinen dunklen Vogelaugen, eingewickelt in ein enganliegendes braunes Gewand, das auch ihr Haar bedeckt. Sie erinnert mich an die Holzfigur Rahel aus unserer Weihnachtskrippe. Ich frage sie nach Papier und Stift und denke gleichzeitig, dass es eigentlich Quatsch ist, sie zu fragen. Aber sie organisiert mir tatsächlich ein paar Zettel und einen Stift. Genau so schnell wie sie da war, ist sie auch wieder verschwunden, als ich später nach ihr Ausschau halte.

Die Wimmelseite zeigt sie figurenhaft aufgerichtet, wie auf dem Weg zu einem historischen Theaterstück an der Gebetsmauer. Meine Wunsch-Zettel sind die Eintrittskarten..  In der Hand hält Rahel, so nenne ich sie, Block und Stift.

Etwas weiter rechts im Wimmelbild steht David mit der Kippa auf dem Kopf, Enkel jüdischer Immigranten aus Österreich, die dem Holocaust entkommen sind. Er arbeitet in dem Hotel, in das wir später umziehen. Er hat ein jungenhaftes, rundes Gesicht, immer einen kleinen Scherz auf den Lippen und ein Augenzwinkern parat. Außerdem sorgt er für kühlende Getränke und für Tee am Samovar, wenn die Gäste Schutz vor der Hitze suchen. David hält auf dem Bild einen Zimttee-Beutel in der Hand. Der Tee ist außergewöhnlich gut. Ich finde hier als Nicht-Tee-Fan meinen Lieblingstee, der mich erfrischt und auf den ich mich jeden Tag freue.

Dazwischen wimmelt es auf dem Wimmelbild von jungen durchtrainierten und gutaussehenden braungebrannten Menschen, die mit ihren E-Rollern durch die heisse Stadt Tel Aviv rasen, sich in der Sonne am Strand mit ihren super bodies präsentieren und in hippen Cafés Avocado-Sandwiches mit Kresse essen. In Jerusalem die orthodoxen Männer mit ihren Pejes, Hüten und längen Mänteln, begleitet von ihren Frauen, die Perücken und dicke Strumpfhosen tragen.  Der Muezzin, der in der al Aqsa Moschee zum Gebet ruft und Touristen von überall, die sich mit ihren Kamera-Handys und erhitzten Gesichtern in den Fluss der heissen Stadt hineindampfen. Ein palästinensischer Brotverkäufer mit dicker Hornbrille preist an seinem offenen Brotwagen verschiedene Brotsorten an. Er wedelt stolz mit einem deutschen Reiseführer vor unserer Nase, in welchem seine Ware empfohlen wird. Das Brot ist wirklich gut! Die bunten Schirmchen, die als Sonnenschutz über den engen Marktgassen leuchten, die leuchtenden Gewürze, die Farben, die Stimmen. Die Stadt, die auf sonnendurchtränktem gelbem Stein gebaut ist.

Ein riesiger Dia-Rahmen in Jaffa, gemacht für die Touristen. Im Hintergrund die Stadtstrandabschnitte von Tel Aviv, jener weissen, auf Sand gebauten jungen Stadt, aufgeteilt nach Themen: der religiöse Strand , der ausschließlich orthodoxen Juden vorbehalten ist, der Mezizim-Strand, der Atzmout Strand für Homosexuelle, der Hilton Strand fürs sichere Schwimmen, der Frishman Strand.. für jeden ist etwas dabei. Zuhause angekommen, stelle ich mir vor, wie Gott auf dem Wimmelbild an diesem alten Ort Jaffa vor dem Dia-Rahmen mit der Aufschrift „Welcome back to the non Stop City Tel-Aviv“  steht und allen zuruft:  Life is a beach, look, there‘ s enough space and sand for everybody. Stop fighting. Get together and save the dead sea. Der Strand als Modell für ein friedliches Nebeneinander – und damit ein Alternativmodell zum Ghetto Gazastreifen. Gott aber bleibt stumm. Und er hält sich raus, wenn die Kinder sich in seinem Namen die Köpfe einschlagen.

Yad Vashem. Ein Ort, an dem die Toten in ihren Bildern und Geschichten weiterleben. Aus einer Rotunde, die dem Tageslicht entgegenstrebt, springen mir ihre Gesichter, ihre Namen und ihre Herkunftsländer als „Pages of testimony“ entgegen. Kinder, Paare, alte und junge Frauen und Männer. Ich sehe Männer und Frauen auf Passfotos, Paare mit aneinander gelegten Köpfen, Kinder mit Schleifen auf dem Kopf, schöne Frauen, die kokett posieren, ein Humphrey Bogart Verschnitt, lässig mit Hut und Zigarette im Mundwinkel, melancholische Gesichter, kleine Mädchen auf Spielzeugpferden, ein alter Mann mit einem Gebetsschal auf dem Kopf, Mütter mit ihren Kindern auf dem Arm……Darunter Regale, gefüllt mit schwarzen Akten, die etwas über die ermordeten Menschen erzählen. Der Blick nach unten fällt in einen mit Wasser gefüllten, dunklen Schacht, in dem sich die Bilder spiegeln, verschwimmen und entschwinden. Jeweils ein Leben, das ausgelöscht wurde, ohne Chance, die eigene Geschichte weiter leben und erzählen zu können. Ich denke an die ältere Dame am Einlass, die dort als Freiwillige arbeitet. Mir fällt ihre ungewöhnliche Haarfrisur auf. Vor dem schwarz gefärbten Haarkranz, der sich wie ein Halb-Diadem um ihren Kopf legt, sitzt ein zweiter Haarkranz, eingefärbt in weiss. Vielleicht nur ein modischer Gag, vielleicht aber auch ein Hinweis auf zwei Leben, auf eine Geschichte, die sie damit ohne Worte weitererzählt. Sie spricht ein paar Sätze Deutsch.

Ein  schön gedeckter Tisch, am Meer, an dem wir mit Griechen, Franzosen und Israelis sitzen und essen. Ein Abend, an dem wir mit „fast Fremden“ durch ein gemeinsames Thema an einen Tisch gekommen sind. Die Sonne macht wie jeden Abend ein furioses Abschiedsspektakel, bevor sie schlagartig hinter den Wellen abtaucht. Eine Szenerie wie in einem Film und ein bisschen surreal.

Wir begeben uns auf die Rückreise. Das Wimmelbild zeigt eine Flughalle, in der sich Menschen in zahllosen Schlangen geduldig aneinander reihen. Unser Flug hat ein paar Stunden Verspätung. Dann sitzen wir endlich in der Maschine. Nach der Landung müssen wir eine geraume Zeitlang warten, bis wir das Flugzeug verlassen dürfen. Auf dem Wimmelbild sieht man eine Stewardess, die erschöpft im Gang des Flugzeuges steht. Ihr Blick ist unruhig. Wir kommen ins Gespräch und sie erzählt mir eine – ihre Geschichte. Sie macht sich Sorgen, weil sie nicht weiss, wo sie die Nacht nach der verspäteten Ankunft verbringen soll. Und ist totmüde. Und ist seit einer Woche fast ununterbrochen unterwegs. Und ihre Tochter hat morgen Abifeier. Und das Kleid dafür ist noch nicht fertig. Und der nächste Zug zu ihrem Heimatort fährt erst vor kurz vor Tagesbeginn. Sie erzählt, dass sie sich von ihrem Arbeitgeber ausgebeutet und von den Passagieren oft schlecht behandelt fühlt. „Sehen Sie selbst“, sagt sie bitter, als ein Passagier sie ohne Entschuldigung rempelt, weil er schnell an ihr vorbei will. Der feste Boden fehlt. Wir reden ein bisschen und ich nehme sie kurz in den Arm. Es fließen ein paar Tränen, die sich einfach nicht mehr zurückhalten lassen wollen, bevor sie ihre noch verbleibenden Kräfte zusammenkratzt, wieder in ihre Rolle eintaucht und das tut, was jetzt zu tun ist. Und meine innere Juke-Box spielt plötzlich unaufgefordert Reinhard Mey’s Song „Über den Wolken“:

…muss die Freiheit wohl grenzenlos sein , alle Ängste alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann.. würde was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein…

Hinter uns steht eine Schlange von aufmerksamen Zuhörern, die betroffen wirken. Ein junger Mann bedankt sich bei mir für das von ihm beobachtete Gespräch. Wir verlassen still und nachdenklich das Flugzeug, manche Passagiere bedanken sich bei der Crew, die ihr Bestes gegeben hat und erschöpft wie nach einem Wettkampf am Ausgang steht. Dann verschluckt uns die Nacht, in der es noch weitere Verzögerungen, aber schließlich nach vielen Stunden eine schöne Ankunft zu Hause gibt. Nach ein paar Stunden Schlaf breche ich wieder auf. Nach Walheim auf den Markt, diesmal unterwegs mit der Kirchenbank, wo heute morgen wieder ein neues Wimmelbild entsteht.

„Wir erzählen uns Geschichten um zu leben“: So lautet ein Buchtitel der brillianten amerikanischen Essayistin und Schriftstellerin Joan Didion. Auch der Geschichtenerzähler und große Kommunikator Jesus wusste um die lebensspendende Kraft der Wörter, der Geschichten und der Bilder. Wir sollten uns in unserer Kirche wieder mehr Geschichten erzählen. Finde ich jedenfalls. Damit wir wieder lebendig werden. Oder, wie Ali Migutsch sagt, „in die Gärten der Phantasie“ gelangen können. Da war Kirche, glaube ich, noch nie und da sollte sie unbedingt mal hin. 😉

Margit Umbach

Photo: privat, Grafittikunst in Tel Aviv TAO