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Verwilderte Gärten

Wer ein Buch zu Ende gelesen hat und es abschließend zuschlägt, verlässt die Szenerie. Das Buch kann ins Regal, auf den Flohmarkt, zum Weiterverleih, in die Papiertonne oder im besten Fall als Wortschatz in die innere Bibliothek.

In meiner inneren Bibliothek steht der biografische Roman des bekannten Schauspielers Edgar Selge, „Hast du uns endlich gefunden“, ein Buch, das ich nicht gesucht, aber gefunden habe. Eine bemerkenswerte, facettenreiche biografische Erinnerungsreise, die bleibt, weil in Selges Kindheits- Erinnerungen jede(r) etwas vom (eigenen) menschlichen Leben wiederentdecken kann. Sie ist wie ein großer Webteppich, in dem sich Fäden von Tragik, Komik, Vergangenheit und Gegenwart, Körper und Seele, Realität und Phantasie lebhaft miteinanderverbinden. Und zwischendrin geht’s dann auch schon mal um den Glauben, um religiöse, herzerwärmende Kindheitsrituale und an einer Stelle auch um die die gewitzte Auslegung einer Bibelstelle, in der Jesus sagt: Ich komme wie ein Dieb in der Nacht (Mt. 24,43).

Ich frage mich, nachdem ich das Buch zuklappe und jene Stellen, in denen er seine religiösen Erfahrungen als Kind und Jugendlicher beschreibt, Revue passieren lasse, ob der Glaube für ihn auch heute noch eine Rolle spielt. Die Art und Weise, wie er retrospektiv in die Weihnachtsfeste seiner Kindheit eintaucht und das damit verbundene Gefühl wieder aus der Tiefe hervorholen und beschreiben kann, lässt vermuten, dass Gott auch in der Gegenwart einen Sitz in seinem Leben hat. Direkt beantworten kann Selge das nur selbst. Da ich ihn leider nicht persönlich fragen kann,  beginne ich, zu recherchieren. Dabei finde ich einige aufschlussreiche Interviews. Das Bild, das der Sohn eines Theologen und Gefängnisdirektors für seinen Gottglauben wählt, ist der „verwilderte Garten“ als Ausgangs- Verweil- und Endpunkt, in den er mit zunehmenden Alter gerne zurückkehrt. Seit langem aus der Kirche ausgetreten, versteht er Glauben als „dynamischen, wechselhaften Vorgang“ , als „einen Sprung ins Leere und der Selbstvergewisserung“, der „sich nicht in das feste Regelwerk einer Institution, ihrer Sprache, ihrer gängigen Vorstellungen und ihren Vorgaben pressen lässt und daher so lebendig daher kommt“ (Edgar Selge)  

Viele Menschen, die (noch) von der Amtskirche Veränderung erwarten, wünschen sich eine authentische Sprache, die ihre Lebenswirklichkeit wiederspiegelt. Eine Sprache, die den Glauben aus menschlischer Erfahrung heraus und nicht aus „einer existenzentlastenden Begriffsakrobatik theologisch-kirchlicher Festschreibungen“ erklärt… wo „die Worte weitaus mehr selber erklärt werden, als dass sie durch sich selbst irgendwas zu erklären vermöchten.“ (Eugen Drewermann).

Es stimmt mich hoffnungsvoll, dass es kirchenferne Menschen wie Selge gibt, die jenseits und trotz aller Formelhaftigkeit einen lebendigen, personalisierten Ort des Glaubens in sich tragen – und diesen inneren Ort dann in ihrer Sprache zu Wort kommen lassen. Ich habe in vielen Gesprächen mit Menschen gehört, dass sie ihn erst entdeckten oder wiederfanden, nachdem sie der Institution den Rücken gekehrt haben.

Es braucht Menschen in und außerhalb von Kirche, die den „Sohn Gottes“ , aus dem abstrakten Himmel theologischer, amtskirchlicher Verschwurbelungen wieder auf die Erde zurückholen, ihn in ihre Lebenserzählung einflechten und ihn ganz persönlich in ihrer  Biografie zu Wort kommen oder zum Bild werden lassen.  „Die Religion der Zukunft wird prophetisch, individuell und personal sein, oder sie wird gar nicht sein.“ (Eugen Drewermann).

Margit Umbach

Photo: Annie Spratt on unsplash

Alles wird wieder groß sein und gewaltig

Alles wird wieder groß sein und gewaltig

Die Lande einfach und die Wasser faltig.

Die Bäume riesig und sehr klein die Mauern;

Und in den Tälern, stark und vielgestaltig,

ein Volk von Hirten und Ackerbauern.

Und keine Kirchen, welche Gott umklammern

Wie einen Flüchtling und ihn dann bejammern

Wie ein gefangenes und wundes Tier –

Die Häuser gastlich allen Einlassklopfern

Und ein Gefühl von unbegrenzten Opfern

In allem Handeln in dir und mir.

Kein Jenseitswarten und kein Schaun nach drüben,

nur Sehnsucht, auch den Tod nicht zu entweihn

und dienend sich am Irdischen zu üben,

um seinen Händen nicht mehr neu zu sein.

Rainer Maria Rilke