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harte Nüsse und schlechte Zähne

Wir sind mal wieder mit der Kirchenbank am Eregliplatz im Zentrum von Nord-Düren unterwegs. Ein Bronxviertel im Kleinformat, geprägt von Verfall: Schrottimmobilien, (Drogen)kriminalität, Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben, die Obdachlosenszene rund um den Bahnhof, der um die Ecke liegt.  Dazwischen türkische Obstläden, ein kurdischer Bäckerladen –  auf dem Boden sitzend eine Frau mit Kopftuch, die Fladen walzt. Eine Szene wie aus einem anatolischen Bergdorf. Das Lahmacun – unschlagbar lecker! Schräg gegenüber Netto, DM und Kick. Und mittendrin der kleine Dürener Dom, wie ich ihn nenne, die Joachimskirche. Ein imposantes Gebäude auf einem schönen, parkähnlichen Platz, bewachsen mit alten Bäumen, deren Baumkronen sich wie eine löchrige grüne Decke unter dem sommerlich blauen Himmel ausbreiten. Um die Ecke am Eregliplatz hat sich auf einer Parkbank mit Tisch eine Großfamilie zum Picknick versammelt. Eine übergewichtige Frau schiebt sitzend ihren Rollstuhl mit aufgequollenen, in schlechten Schuhen steckenden Füßen voran. Ihre Haare sind scheinbar lange nicht mehr gewaschen worden und ihre Zähne kaputt oder entfernt, sodass sie das Obst, das wir ihr anbieten, nicht verzehren kann. Sie bittet mich stattdessen um ein paar Zigaretten und beginnt von sich zu erzählen; und ich bin erstaunt, dass es in diesem Gespräch nicht primär um ihre desolate Lage und die Suche nach passendem Schuhwerk geht, sondern um eine sehr wache und präsente Wahrnehmung von Umweltthemen. Die Armut riecht manchmal streng. Nach dem Inneren einer verschlossenen Kiste, die versiegelt und lange unbeachtet auf dem Dachboden stand und nun plötzlich geöffnet wird. Neben dem strengen Geruch kommt aber doch auch anderes hervor: eine überraschend frische Prise Reflexionsfähigkeit, Neugier, Ideen und Offenheit.

Ein junger Mann aus Afrika, arbeitslos, zeigt mir eine scharfe Narbe, die sich seitlich in seinen Kopf gefräst hat und von einer gewalttätigen Auseinandersetzung erzählt, in der ein Teil seines Schädels gespalten und durch eine Platte ersetzt wurde. Neben der Narbe sind ihm nach einem langen Krankenhausaufenthalt starke Kopfschmerzen und eingeschränkte Arbeitsfähigkeit geblieben. Ein Paar kommt vorbei. „Kirche, Glauben… lange nicht mehr drüber nachgedacht,“ sagen sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. Und das Leben hier? Vermüllt und verwahrlost, antwortet der Mann. Mietshäuser, in denen sich 8 Parteien Toilette und Dusche teilen und zahlreiche Ratten und Mäuse, die als Untermieter eingezogen sind. „Ratten und Mäuse gemeinsam unter einem Dach – können Sie sich das vorstellen?“ Er ist in dem Viertel aufgewachsen, ist ca. 50 Jahre und erzählt davon, dass es vor langer Zeit hier mal anders und besser war. Und dass er auch gerne weg will. So wie die meisten hier. Dann kommt eine Frau mit zwei Mädchen vorbei; ich erkenne Sie wieder. Sie hat schlechte Zähne, ein freundliches, herzliches Lachen und blitzblaue Augen. So wie ihre wache 16-jährige Schwester, die mir erzählt, dass sie nun bald ihren Hauptschulabschluss macht und bereits einen Schulplatz in Düren hat, um eine Ausbildung als Sozialassistentin zu absolvieren. Die Karte mit dem Love-Aufdruck, die ich ihr reiche, gefällt ihr.  Dem kleinen kugelrunden, vierjährigen Mädchen sieht man ihre zuckerlastige Ernährung an. Beherzt greift sie zu den Gummibärchen, die Gemeindereferentin Dorothee Wakefield neben anderen Süssigkeiten aus der Lebensmittelausgabe mitgebracht hat.  Die Kleine redet viel, ist sehr wortgewandt und wirkt quicklebendig. Als ich ihnen eine Pflanzkugel und Baumsamen in die Hand drücke, erzählen sie von ihrem Garten, dem Gemüse, dass sie dort anbauen und wie gut es sei, diesen Ort zu haben. Da passt die Kugel dann gut rein; und die Familie ist gespannt, ob sie aufgeht. Ein Mann kommt vorbei und erzählt, dass er auf dem Jeckesberg wohnt. Jeckesberg: „Sie wissen doch sicherlich, was das ist, fragt er mich.  Ich nicke. „Jeckesberg ist der „Verrücktenberg und der umgangssprachliche Begriff für die LVR-Klinik in Düren“, antworte ich treffsicher, und fühle mich, als hätte mir Günter Jauch gerade eine Frage bei „Wer wird Millionär“ gestellt, die ich richtig beantwortet habe. Der Passant bleibt eine Weile bei uns stehen und erzählt von seinem Leben, das er 30 Jahre lang vorwiegend in Einrichtungen und im Strafvollzug verbracht hat. Er hofft nach Entlassung auf eine eigene Wohnung und will alte Fehler keinesfalls wiederholen. Man muss immer etwas haben, worauf man sich freut. Sagt der Dichter Christian Andersen. P. freut sich auf die Wallfahrt nach Kevelaer und fragt mich, ob ich dort schon mal gewesen sei. Ich verneine, und Begeisterung blitzt in seinen Augen hinter den dicken Brillengläsern auf, als er von seinem Vorhaben erzählt. In den Apfel, den ich ihm anbiete, kann auch er nicht beißen. Er deutet auf sein unvollständiges Gebiss und lacht. Armut, Krankheit, Straffälligkeit, jedes für sich genommen schon eine harte Nuss, an der man sich die Zähne ausbeißen kann. Dorothee hält Flyer bereit, um über die Kleiderkammer St. Joachim zu informieren, die sie mit den Ehrenamtlichen neu ausgerichtet hat, dazu ein Hinweis auf die nächste Lebensmittelausgabe in den Räumen des Pfarrheimes, die mit Spenden eines in Düren Birkesdorf ansässigen Supermarktes zustande kam. Nach den Sommerferien soll das Nähcafé eröffnen, in dem Raum und Zeit für einen Kaffeeplausch sein soll und auch Näh-Kurse belegt werden können, sodass Frauen und Männer sich selbst ein Kleidungsstück, ein Kissen oder was auch immer nähen, ausstellen und verkaufen können. Hier entsteht auf katholischen Grund eine kleine Insel mit unterschiedlichen Ankerplätzen, die neben den Angeboten der evangelischen Kirche in Kooperation mit den städtischen und verbandlichen Anlaufstellen bemüht ist, das Leben am Platz ein wenig zu verbessern. Es bedarf jedoch dabei mehr als einer reinen Versorgungsstruktur. Wichtig ist der Blick auf die Ressourcen der Menschen die hier leben und die Frage danach, wie man sie nutzen kann. Empowerment in einem Viertel das ziemlich weit unten ist – geht das? Ich denke ja – wenn man Raum schafft, für ganz einfache und individuelle Beteiligungs- und Einsatzmöglichkeiten für Menschen, denen wir eigentlich nichts mehr zutrauen. Sicherlich eine mühsame und schwierige Aufgabe. Es braucht dafür einen langen Atem, Geld, Ideen, Improvisation, Loslösung von hemmenden Credos: Geht nicht, klappt nicht, hoffnungslos. Mit anderen Worten: es braucht noch viel mehr community organizing an diesem Ort. Ein langer und beschwerlicher Weg aber in die richtige Richtung. Wackelt, passt und hat noch Luft. Nach oben.

Margit Umbach

Foto: yuyeung-lau-vovo on unsplash