Fast jeder hat schon mal auf ein Wunder gehofft – vielleicht auch nur Samstags vorm Fernseher bei der Bundesliga. Und wenn`s dann passiert, wie jüngst beim Spiel Borussia Dortmund gegen Werder Bremen, macht es „Wham“!, und da denkt wohl kein Werder Fan mehr, dass es idiotisch ist, an Wunder zu glauben: Der Außenseiter Bremen schießt in den letzten 5 Minuten noch 3 Tore, was in den letzten 50 Jahren wohl noch nie in diesem Umfang und in dieser zeitlichen Dichte passiert ist. Obwohl chancenlos, pumpen die Spieler nochmal die letzten Energien in ihre Beine, hoffen auf ein Wunder und dann passiert das eigentlich Unmögliche. „Das Fußballwunder“ – fast schon ein Klischee.
„Wenn jetzt nicht bald ein Wunder passiert“.. ein lapidarer Satz, der z. B. fällt, wenn die Bahn streikt, der Krieg tiefe Wunden schlägt und kein Ende nimmt, die Rezession nach oben geht, der Stau auf der Autobahn oder die Endlostelefonwarteschleife an den Nerven zerrt und das Klima verrückt spielt. Seit sich die Erde dreht, leben wir mal mehr, mal weniger in Zeiten maximaler Unordnung und streckenweiser Hilflosigkeit. Wir räumen auf und stellen am Ende doch oft fest, dass das Chaos nicht kleiner, sondern eher größer geworden ist als vorher. Das Bild hing schief, sagt Loriot, nachdem er das ganze Wohnzimmer beim Aufräumen in eine Messibude verwandelt hat. Wunder werden immer gebraucht.
Was mir am Wunderglaube gefällt, ist, dass er das letzte Bollwerk gegen die totale Resignation bildet, bei gleichzeitigem Wissen, dass es jedoch sehr unwahrscheinlich ist, dass das Erhoffte eintritt. Die letzte aller Optionen, die doch (eigentlich) keine ist, weil es keine Wahl gibt. Wunderglaube speist sich aus „Emuna“. Ein weiches hebräisches Wort für ein Vertrauen, das auf die Kraft von oben setzt, wenn etwas absolut sinn- und perspektivlos erscheint. Wunderglaube hat nichts mit Blödheit oder Naivität, sondern mit Demut zu tun. Wunder kann man nicht bewirken, sie passieren, sie kommen als Geschenk oder eben auch nicht. Man kann bestenfalls an sie glauben und ihnen die Tür offen halten, denn es könnte ja sein, dass sie vorbeischauen. Sie folgen keinen Regeln und keinem Prinzip. Und manchmal sind sie so unspektakulär, so klein, so unerwartet und unverhofft, dass man schon genau hingucken muss, um sie als solche wahrzunehmen, was zeigt, dass man sich auf jeden Fall Offenheit, Sensibilität für das Unerwartete und Gottvertrauen behalten sollte, wenn man die „Welt der Wunder“, nicht verpassen will. Wunderglaube ist also vernünftig, schön und tröstlich. Er zieht „wider besseres Wissen“ Energie aus der Chancenlosigkeit und hat seinen Grund im Vertrauen in etwas, das über mir steht, obwohl schon alles flöten ist. Dann kann vieles passieren, das nicht im Fahrplan des Lebens steht, aber genau demselben unerwartet eine andere, gute Richtung gibt.
Aus meiner Wunder-Bar: Sommer 1974. Ich war 10 Jahre alt. Es war das Jahr der Fußballweltmeisterschaft, die nach 1954 zum zweiten Mal in Deutschland stattfand; einer Weltmeisterschaft, die einen Sommer lang bei mir das Interesse an Fußball und bei meiner fussballverrückten Mutter die Hoffnung auf ein 2. Wunder von Bern entfacht hatte. Wunder brauchen Maskottchen, sagt der Aber-Glaube. Und so lief ich in diesen Tagen mit einem TIP und TAP WM-Maskottchen-T-Shirt durch einen ziemlich verregneten Fußballsommer, dessen Himmel zusätzlich durch den Magendurchbruch meines Opas getrübt war. Jener lag klein, zerfallen und komatös nach einer schweren OP in einem weissen Krankenhausbett, dem Tod sichtbar näher als dem Leben. Ich erinnere mich an einen heissen, sonnigen Abend, an dem ich vom Spielen nach Hause kam und hinter der halb geöffneten Badezimmertür das Schluchzen meiner Mutter hörte, die im Ausgehkleid auf dem Rand der Badewanne kauerte, während mein Vater hektisch die Autoschlüssel suchte. Beide kurz vor dem Aufbruch, denn man hatte ihnen mitgeteilt, dass mein Großvater wohl nun wirklich in den letzten Zügen lag und der Krankenhausseelsorger bereit stand, um ihm die Sterbesakramente zu spenden. Es musste schnell gehen. Ich blieb zu Hause, schaltete den Fernseher ein, und sah mir das WM Spiel des Abends an. Ich weiss nicht mehr, wer gegen wen spielte, wer der Favorit war, um welche WM-Runde es sich handelte und wie das Spiel ausging. Ich erinnere mich aber daran, dass ich zwischen dem Spiel und meiner Vorstellung davon, was sich wohl jetzt gerade im Krankenzimmer ereignete, wie zwischen zwei Fernsehprogrammen hin und her zappte, solange, bis das knackende Geräusch des Haustürschlüssels die Rückkehr meiner Eltern ankündigte. Etwas Wunderbares war passiert. Die hohlen, blassen Wangen meines sterbenden Großvaters hatten sich nach der Spendung des Sterbesakraments plötzlich gerötet. Es deutete sich an, als würde er es tatsächlich schaffen, unter dem Berg von Schläuchen, Kabeln und Infusionen, die über seinem mühsam zusammengeflickten Restmagen und erschlafften Körper aufgetürmt waren, seine noch verbliebenen Lebensenergien zusammen zu kratzen, um dem Wunder Einlass zu verschaffen. Anpfiff für die Verlängerung.
Deutschland wurde in diesem Jahr zum zweiten Mal Weltmeister, meine Mutter hatte nur ein Spiel verpasst, und mein Opa starb 9 Jahre später lebenssatt in seinem eigenen Bett im Beisein seiner Lieben.
„Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl. “ (Psalm 139, 14)
Was steht in Deiner „Wunder-Bar“?
Margit Umbach
Photo: Marcel Smits on unsplash
Buch und Filmtipp zum Blog-Thema: sehr empfehlenswert!
„Wunder (Originaltitel: Wonder) ist ein US-amerikanisches Filmdrama von Stephen Chbosky, das am 17. November 2017 in die US-amerikanischen und am 25. Januar 2018 in die deutschen Kinos kam. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Bestseller-Roman von Raquel J. Palacio aus dem Jahr 2012.“ (Wikipedia)